Essstörung und Weihnachten

Ob das wohl gut geht?
Es ist jedes Jahr dasselbe und kommt doch immer wieder überraschend: Die Weihnachtszeit.
Die Zeit der Liebe ist für Menschen mit Essstörungen (und übrigens für die meisten anderen auch, nur halt etwas weniger) enorm stressig! Es geht um Nächstenliebe, Essen, Beschenken, Beschenkt werden, Diät-, Gewichts- und Körperüberbetonung wohin man nur schaut und dann ist da noch die Familie.
Oh je. So viel Raum für Gedankenspiralen, Gefühls-Chaos und Schuldgefühle! Aber ich gehe gern mal ins Detail:
Nächstenliebe
Was grundsätzlich für die meisten flauschig bis warm klingt (Nächstenliebe) ist für Menschen mit Essstörung häufig schon der erste große Graus. Denn schließlich „MUSS MAN JA“ zu Weihnachten nett sein, gefühlvoll, herzlich, liebevoll und all der andre Kram. Wie wir – dank viel Forschung – wissen, haben Betroffene erhebliche Schwierigkeiten, ihren Ärger angemessen zum Ausdruck zu bringen (z.B. aus Angst vor Reaktionen/ Ablehnung usw.), sodass sie eher dazu neigen, diesen gegen sich selbst zu richten. Wenn also die Zeit der großen Nächstenliebe anbricht, steht all das nur noch mehr in Frage („darf ich nein sagen?“; „darf ich meine Bedürfnisse in den Vordergrund stellen?„) und die einfache Antwort lautet: JA – ich behaupte sogar, dass die eigene Wehrhaftigkeit und Durchsetzungsfähigkeit an Feiertagen bzw. in den Tagen davor und danach insbesondere gefordert ist – das wusste auch schon Loriot!
Essen
Die Weihnachtszeit (und Feiertage, Geburtstage, Hochzeiten usw.) ist für Menschen mit Essstörungen dasselbe wie Wasser für Gremlins. Aus plüschigen Fellknäueln werden fiese kleine Kobolde. Und das Weihwasser ist das Thema Essen. Betroffene machen sich (zum Teil) Wochen und Tage vorher schon immens viele Gedanken darüber, wann/was/wie viel/wie aufgetischt wird und wer alles dann ausschließlich mit dem Essen der Essgestörten beschäftigt sein wird. Da wird (vielleicht) kommentiert, bedrängt und wohlwollend ermutigt („iss nicht so viel“; „iss doch noch eine Schale“). Viele umgehen dieses Spe(c)ktakel dann einfach, nur um sich (noch mehr) Schuldvorwürfe zu machen bzw. anzuhören.
Hier hilft nur gute Vorbereitung und psychologische/therapeutische Unterstützung, um sich auf das Thema angemessen vorzubereiten und zu „bewaffnen“:
Welchen Einfluss habe ich auf den Verlauf der Feiertage? Wie kann ich die Situationen für mich gut begrenzen? Was sind meine Grenzen und Limits? Was sind „red flags“ (meine Stoppschilder)? Wie lange werde ich maximal bleiben? Welche Rückzugsmöglichkeiten habe ich? – Das sind alles Fragen die sich im Vorfeld klären lassen und eine gute Vorbereitung auf die Feierlichkeiten ermöglichen. Geht nicht unbewaffnet in die Schlacht 😉
Beschenken & Beschenkt werden
Was so harmlos für die meisten klingt, ist für viele Menschen mit Essstörungen ein (weiterer) Alptraum. Da bekäme selbst Freddy Krüger Gänsehaut! Da Betroffene , die in 98% der Fälle an einer Selbstwertstörung leiden, sich extrem schwer damit tun, sich „einfach mal so“ etwas zu gönnen, geraten sie enorm unter Druck, wenn Freunde/Familie/Partner/innen fragen „was wünschst du dir denn?“ oder noch schlimmer: einfach so etwas schenken! Das macht dann – wer hätte es geahnt – Schuldgefühle! Und da geht sogar noch mehr: Denn, wenn die erhoffte Reaktion der Beschenkten (Essgestörten) dann nicht überragende Freude ist, reagieren die Schenker/innen entsprechend beleidigt und dann geht die Post in den Betroffenen erst richtig ab. Denen kann man es auch wirklich niemals recht machen. Da ist die anschließende Selbstbestrafung (Restriktionen = sich selbst auferlegte Entsagungen/Beschränkungen) eine gangbare Option (leider) … dummerweise kollidiert diese dann mit den anderen Punkten (Nächstenliebe, Essen, Familie) – was für ein Fest!

Dann haben wir noch den – scheinbar – wesentlich entspannteren Teil des Beschenkens (von Essgestörten für den Rest): Hier gibt es eine reale Möglichkeit, Schuldgefühle zu kompensieren (überall auf der Welt und auch außerhalb von psychischer Störung) und anderen etwas zu geben, fällt ja viel leichter, als zu nehmen. Und supportet wird diese Idee auch noch von der Kirche (geben ist seliger denn nehmen), daher sollte jedes 10. Geschenk auch direkt dorthin wandern. Sicher ist sicher! Blöd nur, dass (viele, nicht alle!) Menschen mit Essstörung sich irre schwer damit tun, Entscheidungen zu treffen. Welches ist denn nun das richtige Geschenk? Und wenn XYZ sich gar nicht darüber freut? Oh Gott! Was denkt XYZ dann von mir? Er/Sie will doch dann sicher nie wieder etwas mit mir zu tun haben! Richtig ätzend, wenn die anderen dann nicht überragend begeistert reagieren – das kurbelt die Denk- und Sorgenmach- Maschinerie erst richtig an. Wie gesagt, man kann es auch wirklich niemandem Recht machen.
Ein gängiges Kompensationsmuster ist hier übrigens rigider Perfektionismus: das immer wieder in Frage stellen, verwerfen und verbessern bestehender Ideen, mit der darunter liegenden (kindlich naiven) Idee: Wenn es perfekt ist, dann gibt es keine negativen Reaktionen/Gefühle. Die ganz-genau-richtige Lösung eben!
Die Familie / Freunde / Partner/innen
Auch wenn inzwischen klar sein sollte, dass die Feiertage eher zum in-den-Schlaf-Weinen (Wein-Nacht) als zum fröhlichen Miteinander einladen, gibt es dennoch Hoffnung. Wenn sich mehr Menschen – vor allem innerhalb der Familie – über das Störungsbild informieren und sich mit den inneren Erlebenswelten der Betroffenen informieren, kann das Fest mitunter doch noch aushaltbar werden. Auch wenn in den Feiertagen viel Konfliktpotenzial (weil alle unter Druck) enthält und typischerweise viele Familienmitglieder auf einmal aufeinander treffen, die sich sonst ganz gut aus dem Weg gehen können, ist es wichtig, dem jeweils anderen trotzdem die Freiräume zu geben, die er oder sie brauchen. Anstelle zu mutmaßen, was in anderen vorgehen könnte, macht es oft sehr viel mehr Sinn, diese direkt zu fragen. Manchmal überraschen sowohl die Fragen als auch die Antworten! Und das kann (echte) Nähe schaffen. Nehmt die Grenzen der anderen ernst und stellt eure eigenen klar heraus.
Schafft Oasen der Ruhe in diesen turbulenten Zeiten (Rückzugsräume). Nicht jeder mag es laut (oder leise). Überfrachtet das Programm nicht – Menschen mit psychischer Erkrankung (jedweder Natur) haben eine viel kürzere Belastungstoleranz (ebenso wie Kinder und Ältere) und benötigen immer wieder Ruhe-Phasen.
Ich schenke dir: … eine Grenze! Den Klinikaufenthalt!
Und je nach Grad der Erkrankung (z. Bsp. schwergradige Anorexia Nervosa, exzessiv ausgelebte Bulimia nervosa) ist es wahrscheinlich ratsamer, Klartext zu reden (Nicht-Vereinbarkeit von gravierendem Untergewicht mit Festlichkeiten) als womöglich weiter zur Verharmlosung und Chronifizierung beizutragen!! Denn jedes Mal, wenn Angehörige auch „so tun als ob“, wird es den Erkrankten selbst noch viel schwerer fallen, ihre eigene Erkrankung als Problem einzuordnen (= nicht wahrhaben wollen!). Also kann das echte Geschenk tatsächlich die Konfrontation sein, mit anschließendem Durchsetzen des Klinikaufenthalts. Auch wenn dann keine festliche Stimmung aufkommt, ist womöglich langfristig für alle Beteiligten ein wahrer Segen.